Mutter Maria Lorenza Longo
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Mutter Maria Lorenza Longo
Brief des Generalministers
Prot. N. 00585/21
An die Klarissen-Kapuzinerinnen.
Meine lieben Schwestern,
Der Friede des Herrn sei mit euch!
1. Die bevorstehende Seligsprechung der ehrwürdigen Mutter Maria Lorenza Longo ist eine vorzügliche Gelegenheit, einen Dialog über die geistige Gestalt der Gründerin ihres ersten Klosters und Initiatorin der Kapuzinerinnenreform in die Wege zu leiten. Diese war sicherlich von ihrem Geist und ihren Idealen geprägt und stellte eine „eigene“ Besonderheit innerhalb des zweiten Franziskanischen Ordens dar.
Jeder Christ ist vom Herrn berufen, das Wort zu verleiblichen, sein Leben zu einer Mission zu machen. Wie Papst Franziskus lehrt, „ist jede Heilige eine Botschaft, die der Heilige Geist aus dem Reichtum Jesu Christi schöpft und seinem Volk schenkt“[1]. Um zu verstehen, welches Wort der Herr durch eine Heilige sagen will, ist es nicht ratsam, sich mit Details aufzuhalten, denn es kann da auch Schatten und Schwächen geben. “Was wir betrachten müssen, ist die Gesamtheit eines Lebens, der ganze Weg der Heiligung, jene Gestalt, die etwas von Jesus Christus widerspiegelt und die zum Vorschein kommt, wenn es gelingt, die Bedeutung der Gesamtheit einer Person zu erfassen”[2].
Bemühen wir uns daher, diese „Form“ der Heiligkeit von Mutter Maria Lorenza aufscheinen zu lassen, im Wissen, dass wir alle auch eingeladen sind, die Gesamtheit des Lebens als Mission zu begreifen und so das Wort zu erkennen, das Gott durch uns der Welt sagen möchte[3].
I. Maria Lorenza: Pilgerfahrt und Verfügbarkeit
2. Katalonien erlebte die Geburt von Maria Requenses (wahrscheinlich 1463 in Lleida) in den Jahren des Übergangs vom Mittelalter zur Neuzeit. Noch im jugendlichen Alter heiratete sie Joan Llonc, mit dem sie mehrere Kinder hatte. In diesen Jahren war Maria im Wesentlichen Ehefrau und Mutter und führte ein verborgenes Leben des Dienens und der Hingabe in der Familie. Die alltägliche Ruhe wurde durch einen schlimmen Vergiftungsversuch einer Magd gestört, der Maria gelähmt und bei schlechter Gesundheit mit Behinderungen und großem Leiden zurückließ.
Inzwischen, in der letzten Hälfte des 15. Jahrhunderts, nahm die territoriale Einheit der Iberischen Halbinsel unter der Herrschaft der "katholischen" Könige Gestalt an. Die spanische Krone beherrschte die Meere und fand neue Expansionshorizonte in den amerikanischen Ländern. Und im Mittelmeer erreichte die spanische Macht die Insel Sardinien und dann das Königreich Neapel in Süditalien. Und es war gerade Joan Llonc der nach Neapel geschickt wurde, um den König als Regent zu begleiten und in seiner Kanzlei zu dienen. Die ganze Familie zog dorthin, deren Nachname, italianisiert, zu Longo wurde. In diesen Jahren lernt Marias Herz die Einschränkungen der Krankheit und die Entwurzelung aus ihrem Heimatland mit Liebe zu ertragen. Wenige Jahre später wird sie durch den Tod ihres Mannes in eine noch verletzlichere Situation geraten: sie ist Witwe, behindert und abhängig.
3.Im religiösen Kontext dieser Jahre gab es eine Aufbruchstimmung, inmitten der Kritik an den Fehlentwicklungen der kirchlichen Institutionen und neuen Ideen für evangelische Veränderungen und Reformen. Das "vortridentinische" katholische Umfeld war reich an Initiativen, an Laienfiguren und großen Frauen, die ihren Glauben in verschiedenen Diensten an den meist Benachteiligten und in den mystischen Höhen in der Intimität des Gebets intensiv lebten[4].
Im Jahr 1509 unternahm Maria eine lang ersehnte Wallfahrt: den Besuch des Heiligen Hauses von Nazareth im Heiligtum von Loreto. Hier findet, durch die Fürsprache der allerheiligsten Jungfrau, ihre wunderbare Heilung statt, ein Wunder, das ihre Gesundheit und Beweglichkeit wiederherstellt ... Und es passiert noch viel mehr! Im Haus des "Ja", umgeben von denselben Mauern, die das "Fiat" der Mutter des Herrn als Zeugen erlebten, wirkt der Heilige Geist einmal mehr Wunder und findet in dieser anderen Maria Verfügbarkeit und Empfänglichkeit. Sie wird auch ihren Namen in Maria Lorenza ändern, was ihre Person für immer an dieses spirituellen Ereignis in Loreto bindet. Seither trug sie das Kleid der Franziskanischen Terziaren und sah ihre neue Mission in der totalen Hingabe an die Armen und Kranken.
4. Die Bedürftigsten von Neapel fanden in dieser Frau das Zeichen des liebevollen Trostes Gottes, des Vaters, und sie selbst lernte im Laufe der Jahre, das Antlitz Christi in jedem Armen zu entdecken, indem sie sich ohne Vorbehalte materiell und geistlich hingab. Auf dem Weg der Solidarität erfuhr sie diese Stadt als ihre neue Heimat.
Im Laufe der Zeit bat der Herr sie, einen weiteren Schritt auf dieser Pilgerreise der Verfügbarkeit zu tun: die Eröffnung und Leitung eines Werkes der dauerhaften und geordneten Hilfe. Hier tritt Ettore Vernazza auf den Plan, ein verwitweter Notar, der sein Leben und sein Vermögen der Pflege der Bedürftigen widmete und das erste "Krankenhaus der Unheilbaren" in Genua gründete. So wie er es dort und dann in Rom getan hatte, reiste Vernazza mit diesem Vorhaben nach Neapel. Mit seiner hartnäckigen Beharrlichkeit gewann er die Bereitschaft von Maria Lorenza, diesen Traum an vorderster Front mitzutragen. Sie nahm mit Glaubensgeist und im Bewusstsein ihrer Grenzen die Aufgabe an, nachdem sie in einer heiligen Messe die Einladung des Herrn wahrgenommen hatte, ihn in den unheilbar Armen noch mehr zu lieben.
Das Krankenhaus von Neapel wurde mit dem ganzen Engagement der seligen Mutter organisiert, geleitet und gefestigt: Mit ihrer Kraft half sie den Kranken, ermutigte Freiwillige und Mitarbeiter in ihrem Dienst und versuchte, die Reichen zu motivieren, sich mit den Ärmsten solidarisch zu zeigen. Zusammen mit ihr waren einige Frauen adeliger Abstammung die großen Wohltäter des Werkes und kümmerten sich persönlich um die Patienten.
Die ersten Kapuziner, die in Neapel ankamen, wurden in den Räumlichkeiten des Krankenhauses willkommen geheißen und widmeten sich der Unterstützung der "Unheilbaren", während ein endgültiger Wohnort für sie vorbereitet wurde. Dasselbe geschah mit den Theatinervätern bei ihrer Ankunft in der Stadt, wobei der hl. Kajetan Gaetano selbst der Gemeinschaft vorstand.
5. Als sich das Werk in geordneter Weise zu festigen schien und ihre körperlichen Kräfte nachließen, entstand im Herzen von Maria Lorenza ein neuer und intensiver Wunsch nach Pilgerschaft, um dem endgültigen Ziel zuzustreben. Sie wollte das Heilige Land besuchen, "um die kostbaren Stätten zu verehren, die im Blut des Erlösers gebadet sind". Doch dieser Wunsch wandelte sich, als sie entdeckte, dass es Gott gefälliger war, in Neapel zu bleiben und „ein Kloster von Jungfrauen unter dem Patronat und Namen von Maria von Jerusalem zu errichten“[5]. Schon sehr bald formte sie eine Gruppe von Frauen, die sich ganz dem Gebet und der Einsamkeit widmeten und mit der gemeinsamen Rezitation des Stundengebetes begannen. Mit der geistlichen Begleitung des hl. Kajetan und trotz Einschränkungen durch Krankheit und Alter machte sich Maria Lorenza an die Arbeit und erhielt 1535 die päpstliche Genehmigungsbulle für das neue Kloster der "Nonnen des Dritten Ordens des Heiligen Franziskus gemäss der Regel der hl. Klara"[6]. Der ursprüngliche Wohnsitz befand sich auf dem Gelände des gleichen Krankenhauses.
Maria Lorenza machte sich daran, die Zukunft des Klosters zu sichern, indem sie Normen und Richtlinien auf der Grundlage der Regel der hl. Klara, der Satzungen der hl. Koletta und der Reformerfahrung der Kapuziner verfasste. Sie bemühte sich auch, den verschiedenen rechtlichen Aspekten der Stiftung mit Hilfe von päpstlichen Dokumenten einen soliden institutionellen Rahmen zu geben. Im folgenden Jahr durfte sie die Zahl der Nonnen auf dreiunddreißig erhöhen, ein beredtes Symbol für eine Gemeinschaft, die die Mysterien der irdischen Jahre des Herrn Jesus erlebbar machen will[7].
Schließlich ist es der Papst, der durch ein "motu proprio" das Kloster Santa Maria di Gerusalemme in gleicher Weise anerkennt wie jene des Ordens der hl. Klara, in denen die erste Regel "sehr streng" eingehalten wird. Darin ist auch vorgesehen, dass die "Brüder des Ordens des Heiligen Franziskus namens Kapuziner “ für immer deren geistliche Begleiter und Visitatoren sein sollten[8].
6. Die ehrwürdige Mutter beendete ihre irdische Pilgerreise wahrscheinlich im Jahr 1539, und in die erhoffte himmlische Heiligen Stadt gelangte. Sie hinterließ auf dem Weg tiefe Spuren ihres persönlichen Zeugnisses der Hingabe an Gott, die Grundlagen der in der Arbeit des Krankenhauses der Unheilbaren organisierten Nächstenliebe und vor allem einen klaren Ausgangspunkt mit einem grundlegenden juristischen Rahmen für den entstehenden Orden der Klarissen-Kapuzinerinnen, in dem viele Frauen einen geigneten Raum fanden, für ein kontemplatives Leben im Geiste der Reform.
In den folgenden Jahrzehnten folgten die Gründungen von Klöstern, in denen sich Gruppen von Frauen sammelten, die ein streng kontemplatives Leben wünschten, mit heiligen Stifterfiguren und vielen anderen ungenannten Personenen. Einige Gründungen waren geplant und gut vorbereitet, andere waren eher spontane Initiativen oder die Umwandlung von Gruppen von Terziarinnen, die die Kapuzinerreform annahmen. Im Kontext des Jahrhunderts der Reformen, der großen Bewegungen innerhalb der Kirche, der neuen Kongregationen und Institute und der Strukturen, die aus dem Konzil von Trient hervorgegangen sind, haben die Kapuzinerinnen mit ihrer klösterlichen Strenge, ihrer Einfachheit und Nüchternheit, das Angesicht Gottes zu suchen, ihrer Konzentration auf das Wesentliche, alles Überflüssige und Künstliche beiseite lassend, ihren eigenen Beitrag geleistet. Sie bezeugten die Liebe zur Nackheit des Kreuzes. Ihr großer Beitrag zur Reform der Kirche bestand darin, zu den Wurzeln zurückzukehren und dort zu verbleiben.
Im Allgemeinen bezogen sich diese Stiftungen nicht direkt auf die Figur der Maria Lorenza Longo, sondern auf die von ihr gewählten Lebensform und die Art der Befolgung der Klara-Regel. Tatsächlich war ihre Mission nicht die der Gründerin, als Beispiel für die Verwirklichung des Charismas, sondern die eines mächtigen Werkzeugs der Vorsehung, um den ersten Schritt auf einem Wege zu tun, dem ein Gruppe großartiger Frauen folgte, die dieses Charisma bis heute fortgeführt und vertieft haben.
II. Die Identität der Armen Schwestern Kapuzinerinnen
7. Was ist heute, in dieser sich verändernden Welt, das Wort, das Gott der Welt sagen will durch die Klarissen-Kapuzinerinnen, die die Inspiration der seligen Maria Lorenza fortsetzten?
Die mehr als 50 Jahre nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil haben eine große Erneuerungsbewegung in zweifacher Richtung hervorgebracht: eine Rückkehr zu den ursprünglichen Quellen des Charismas und einen kritischen Dialogs mit der Welt von heute[9]. Eure jetzigen Satzungen sind ein großartiger Beweis dafür. Zusammen mit anderen Zweigen des Zweiten Franziskanischen Ordens habt ihr eure Kenntnisse der Schriften, der Geschichte und vor allem der Neubewertung und des Studiums der Regel der hl. Klara vertieft[10]. Eure Identität als Arme Schwestern ist heute klarer und bewusster.
Das Lehramt der Kirche selbst hat in seinen jüngsten Veröffentlichungen zum kontemplativen Leben große Beiträge geleistet. Es wird nicht mehr so sehr als Weg der vollkommenen und sicheren Weihe darstellt, sondern als besondere Erfahrung eines Aspekts, der der ganzen Kirche gehört und verstanden wird in Bezug auf das heilige Volk Gottes: "Die kontemplativen Gemeinschaften... stellen nicht eine vollkommenere Verwirklichung des Evangeliums vor Augen. Da sie die Anforderungen der Taufe erfüllen, dienen sie vielmehr der ganzen Kirche als ein Beispiel, das alle zu kritischer Prüfung aufruft: als ein Zeichen, das einen Weg weist, auf eine Suche hindeutet und so das ganze Volk Gottes an den ersten und letzten Sinn dessen erinnert, wofür es lebt[11]. Eure Identität innerhalb der Kirche ist heute transparenter und bedeutungsvoller geworden.
8. Aber was ist denn das „Eigentliche“ der Kapuzinerinnen innerhalb der kontemplativen Gemeinschaften und der Familie der Klarissen? Was ist das charakteristische Merkmal, das von Anfang an den Auf- und Ausbau der Klöster prägte? Was ist letztendlich die spirituelle Gestalt eures Ordens?
Eure Satzungen bieten eine schöne und einfache Formulierung, die ich mir erlaube, in ihrer ganzen Länge zu zitieren: „Unserer besonderen Berufung treu, wollen wir die Regel der Heiligen Klara ohne Abstriche und gemäss ihrem vollen Sinn als konstitutive Form unseres Lebens bewahren und beobachten, und so dem ursprünglichen Geist folgen, der schon immer wirksam war im Orden. Sie entspringt dem Evangelium und führt uns zum evangelischen Leben, indem sie uns „den Weg der Einfachheit, Demut und Armut“ zeigt. Dank ihr übernehmen wir "die Lebensform und den Weg der heiligen Einheit und der höchsten Armut, die der selige Vater Franziskus mündlich und schriftlich” der heiligen Klara und ihrer Mitschwestern zur Befolgung übergab. Um der ursprünglichen Inspiration und der ständigen Tradition des Ordens treu zu bleiben, sind uns daher in erster Linie die eifrige Betrachtung Gottes in Stille und Einsamkeit, das ständige Lob und die Vereinigung mit dem gekreuzigten Christus mit Liebe und dem Geist der Selbstverleugung wichtig. Darüber hinaus pflegen wir unsere geschwisterlichen Beziehungen mit Einfachheit und Spontaneität; wir geben aufrichtig Zeugnis von einem armen und genügsamen Leben, so dass es ein prophetisches Zeichen für die moderne Gesellschaft sein kann; wir pflegen intensiv die kirchliche Dimension unserer Berufung und kümmern uns um die Armen und Schwachen, indem wir dem Beispiel unserer heiligen Schwestern, insbesondere der hl. Veronica Giuliani, folgen[12].”
9. Wie nötig ist es, diese schönen und dichten Worte zu vertiefen, und sich durch ruhiges Betrachten der eigentlichen Identität und der geistlichen Gestalt eures Ordens bereichern zu lassen.
In diesem Dialog mit euch, möchte ich euch eine paar Abschnitte aus unserer Ratio Formationis vorlegen, die vom “Proprium” sprechen, das wir Minderbrüder Kapuziner eingeladen sind zu pflegen, und die auch für euch inspirierend sein können:
“Die Kapuzinerreform versuchte noch einmal, die franziskanische Lebensform neu zu interpretieren. Ihr Schlüssel ist, wie schon bei Gruppen zuvor, zu Bruder Franziskus zurückzukehren, der Forma minorum, nicht um seine Erfahrungen wörtlich zu wiederholen, sondern um in neuen kulturellen Kontexten seine genuinen Intuitionen anzuwenden. Treue und Kreativität sind die Schlüssel, die uns Jesus näherbringen, um ihm inniger zu folgen und ihn mehr zu lieben (VC 37; PC 2). Indem die Kapuziner immer die Regel und das Testament des Franziskus vor Augen haben, nehmen sie sich vor, ein einfacheres Leben zurückzugewinnen, an einsamen Orten und doch nicht weit weg von den Leuten, in einfachen Strukturen, welche die Freiheit nicht einschränken, und auf der Suche nach Stille, die es ermöglicht, gemeinsam mit Brüdern das Wort des Evangeliums zu hören und es in die Praxis umzusetzen im Dienst an den Kleinsten und Ärmsten ”[13]
“Der kontemplative Blick Gottes (Ex 34,6) ruht auf den von Herzen Armen, auf den Bedrängten, auf den Habenichtsen, auf denen, die Hunger und Durst haben nach der Gerechtigkeit, auf den Barmherzigen, auf denen, die reinen Herzens sind, die für den Frieden arbeiten und auf den Verfolgten um des Guten willen (Mt 5,3-10). Betrachten bedeutet zu wünschen, den Blick Gottes zu haben, das sehen können, was andere nicht zu schauen wagen (Solil. Prol. 4). Wer die Stimme Gottes hört, bereitet das Ohr, die Klage der Armen zu hören. Die Kapuzinerreform entsteht mit der tiefen Sehnsucht, in die Einsiedeleien zurückzukehren und an die abgelegenen Orte, welche die Begegnung mit dem armen und gekreuzigten Jesus begünstigen, wo Schweigen sich in Dienst und Trost für die Opfer der Pest verwandelt und Kontemplation Kompassion wird.”[14]
“Jesus macht uns mit einem Gott vertraut, der sich klein zu machen liebt und sich den Demütigen und Einfältigen offenbart (Mt 11,25). Es ist am Kreuz, im Geheimnis der Offenbarung der Kleinheit Gottes, dass sich die Liebe wahrhaft verwirklicht in einem Akt totaler Enteignung und bedingungsloser Selbsthingabe (Off 7,8-9; NbR 23,3; Erm 6,1-2). Das ist das Fundament des Minderseins, der minoritas. Es geht um etwas Qualitatives, nicht Quantitatives, das seinerseits unserer Art und Weise zu begehren Form gibt, indem es die Versuchung, groß zu sein und Großes zu tun, entlarvt. Franziskus entdeckt in Armen und Gekreuzigten die Kunst, bedingungsfreie Beziehungen zu knüpfen und eine neue Art, die Welt zu betrachten, konzentriert auf das was von grundlegender Bedeutung ist (Gef 6; 8; 10; 2Cel 5; 8; LegM I,2.6). In die gleiche Richtung geht die Kapuzinerreform, wenn sie auf einzigartige Weise die Nüchternheit mit der Suche nach dem Wesentlichen verbindet.”[15]
“Die Kapuzinerreform ist nicht nur ein historisches Faktum der Vergangenheit, sondern auch eine Lebenshaltung, die zu unserer charismatischen Identität gehört. Der Wunsch, sich ständig zu erneuern, überwindet die nostalgische Sehnsucht nach Vergangenem, schaut nach vorn und akzeptiert die Risiken, die ein Gehen in die unbeschriebene Zukunft mit sich bringt (Konst 125,1). Gegenüber den tiefen sozialen Veränderungen ist die christliche Antwort nicht die Angst, die uns in die falsche Sicherheit des Traditionalismus einschließt. Im Gegenteil, nur Glaube und Vertrauen helfen uns, den rechten Weg nach vorn zu finden. Wir sind gerufen, aufzustehen und zu gehen und wieder von vorn zu beginnen, mit dem Evangelium und den Einsichten von Franz und Klara im Herzen.”[16]
10. Wenn wir die Schönheit der “Lebensform” in seiner Gesamtheit betrachten, wie sie bei der seligen Mutter Maria Lorenza Longo erscheint, bleibt der Eindruck, dass sie in ihrem Lebensweg, in ihren vielfältigen Erfahrungen und Tätigkeiten, in ihrem tiefen Sinn des Auf-dem-Wege-seins und der Verfügbarkeit, intuitiv die Grundanliegen der Kapuzinerreform gelebt hat. So machte sie sich zu einem willigen Werkzeug in den Händen von Gottes Plan auf dem Weg in die Zukunft.
Bitten wir den Vater des Erbarmens, dass ihre Seligsprechung ein Ansporn werde, um jenes Wort, das Gott in unserer Zeit zu Gehör bringen will, Fleisch werden zu lassen; dass wir die Zukunft vertrauensvoll annehmen, als willige Werkzeuge Gottes, der die Geschichte leitet.
Auf die Fürbitte des hl. Franziskus, der hl. Klara und der bald seligen Maria Lorenza bete ich:
Der Herr segne euch und behüte euch.
Er zeige euch sein Angesicht und erbarme sich eurer.
Er wende euch sein Antlitz zu und schenke euch seinen Frieden.
Rom, 17. September 2021.
Fest der Wundmale des hl.Franziskus.
Br. Roberto Genuin
Generalminister OFMCap
[1] Papst Franziskus, Gaudete et exultate, Apostolisches Schreiben über den Ruf zur Heiligkeit in der Welt von heute nr. 21, Rom, 2018.
[2] Idem, Gaudete et exultate nr. 22.
[3] Cfr. Idem, Gaudete et exultate nr. 23-24.
[4] Beispiele grosser Frauengestalten in der “vor-tridentinischen” Periode sind die Hl. Caterina Fieschi di Genova (1447-1510); die Heilige Angela Merici (1474-1540), oder auch die Königin Isabella di Castiglia (1451-1504).
[5] Giuseppe Silos, Dell’historie della Religione de’ Chierici Regolari dalla sua prima fondazione, Napoli, Biblioteca nazionale, 165r, in: Vincenzo Criscuolo, “María Lorenza Longo e il monastero delle cappuccine di Napoli nell’annalistica teatina tra cinque e seicento”, Convegno di studi Fonti Storiche della Ven. Maria Lorenza Longo, Nola, 2007.
[6] Papst Paul III, Bulle "Debitum pastoralis officii", 19. Februar 1535.
[7] Papst Paul III, Breve “Alias nos”, 30. April 1536.
[8] Papst Paul III, Motu proprio “Cum Monasterium”, 10. Dezember 1538
[9] Cfr. Das Zweite Vatikanische Konzil, “Perfectae caritatis” Dekret über die zeitgemässe Erneuerung des Ordenslebens nr. 2.
[10] Unter den vielen wertvollen Studien von Spezialisten sei besonders das Gemeinschaftswerk der Klarissen von Umbrien erwähnt: Federazione Santa Chiara d'Assisi delle Clarisse dell'Umbria-Sardegna, Il Vangelo come forma di vita. In ascolto di Chiara nella sua Regola, Edizioni Messaggero, Padova, 2007.
[11] Papst Franziskus, “Vultum Dei Quaerere” Apostolische Konstitution über das kontemplative Leben in Frauenorden nr. 4, Rom, 2016.
[12] Satzungen des Ordens der Klarissen Kapuzinerinnen nr. 3, Rome, 1986
[13] Ratio Formationis OFMCap n. 57, Rom, 2020.
[14] Ratio Formationis OFMCap n. 69, Rom, 2020.
[15] Ratio Formationis OFMCap n. 67, Roma, 2020.
[16] Ratio Formationis OFMCap n. 73, Roma, 2020.